Herr Winkel

Der Text erschien unter der Bezeichnung:
Erzählung von Erlebnissen in Illinois und New-Orleans.
in
Reisen in die Felsengebirge Nord-Amerikas bis zum Hoch-Plateau von Neu-Mexico. Zweiter Band.- Leipzig: Otto Purfürst (und) Hermann Costenoble. o.J. (1861).

Zweiunddreißigstes Kapitel, Seite 270

Als ich im Jahre 1852 in Illinois das Leben eines Jägers zu meinem Beruf gewählt hatte, und als darauf in der nassen Jahreszeit ein solches Leben zu mühsehlig und zu wenig lohnend wurde, sehnte ich mich danach, einige Monate in der Stadt zu leben, d. h. nicht als Müßiggänger, sondern beschäftigt auf eine mir zusagende Weise. Ich begab mich daher nach Belleville, dem nächsten größern Ort. Am ersten Tage schon machte ich die Bekanntschaft der Mr. Winkel, der zu jener Zeit als Secretair beim Gericht angestellt war. Im Verlauf unserer Unterhaltung erfuhr ich, daß er gesonnen sei, seine Stellung für die eines Buchhalters in einem größern Kaufmannshause aufzugeben, und schlug er mir vor, mich um seinen alten Posten zu bewerben. Eine solche Beschäftigung konnte mir nur willkommen sein, denn außerdem, daß sich mir ein angenehmer Erwerbszweig eröffnete, fand ich auch dort Gelegenheit, mich in der englischen Sprache zu vervollkommnen. Da man in Amerika bei Besetzung von Beamtenstellen gewöhnlich mehr auf die Befähigung, als auf Empfehlungen Rücksicht nimmt, so wurde es mir in diesem Falle leicht, meine Wünsche erfüllt zu sehen, und mehrere Monate hindurch wohnten, lebten und arbeiteten Winkel und ich nachbarlich mit einander. Von jener Zeit her stammte also unsere erste Bekanntschaft. Ein unbesiegbarer Drang nach den wilden Regionen des westlichen Theils des amerikanischen Continents leiß mir indessen nicht lange Ruhe hinter dem Schreibtische, ich nahm daher eines Tages Abschied von Freunden und Bekannten in Belleville, und einige Monate darauf durchzog ich mit der Büchse auf dem Rücken das Land meines Sehnens und meiner Träume, die endlosen Prairien des Westens. Ich brauche hier wohl nicht zu wiederholen, wie ich lange für todt und verschollen galt , ich erwähne blos, daß ich nach anderthalb Jahren zum Erstaunen meiner Freunde wieder in Belleville erschien, daß ich dort vergeblich nach Winkel forschte, und nur in Erfahrung brachte, derselbe sei ebenfalls abgereist und verschollen. Einige Monate später führte mein Weg mich nach New-Orleans, wo ich sechs Wochen verweilte, und meine Zeit haushälterisch dazu verwendete, die Stadt und ihre Umgebungen so genau als möglich kennen zu lernen. - Wie in allen von mir besuchten Hafenstädten, waren auch hier Märkte und Kais in den Frühstunden mein Lieblingsaufenthalt, und gewährte es mir eine überaus angenehme Unterhaltung, auf erstern die Schütze zu seinem Bedarf und zu seinem Genuß liefert; auf letzteren dagegen dem luftigen Treiben der Neger zuzuschauen, die ewig jubelnd und hadernd, mit Riesenkräften mächtige Ballen und Fässer an den Raaen hinaufwanden, um sie, je nach Umständen, den dunkeln Räumen schwerfälliger Kauffahrer zu entführen, oder ihnen anzuvertrauen. Eines Tages hatte ich ebenfalls mein Frühmahl beendigt, das heißt, ich hatte auf dem Markte an einem der langen Tische, für ein Billiges, scharfgepfefferte Suppe, zu welcher eine nahebei hängende, grausamer Weise noch lebende Seeschildkröte das Fleisch geliefert, einige Hummerscheeren, Krabben und Austern, zusammen mit einem Stückchen Brod uns einer Tasse Kaffee, zu mir genommen, und war zu einem französischen Dreimaster hinübergegangen, aus welchem man Faß auf Faß der edelsten Weine mittelst der Raawinden auf den Kau schaffte. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit durch einen Mann gefesselt, der, den Heber in der einen, das Notizbuch in der andern Hand, auf den Fässern umherkletterte, sich dieses oder jenes öffnen ließ, das einfach, aber sehr brauchbare Instrument tief in den edlen Rebensaft tauchte, und mit weiser Kennermiene die verschiedenen Weine prüfte. Ich irrte mich nicht, es war ein alter Bekannter und zwar Winkel.
           Er war so sehr in seine Beschäftigung vertieft, daß er mich nicht eher bemerkte, als bis ich neben ihm auf dem eisenbeschlagenen Oxhoft saß, und ihn freundlich aufforderte, sich doch auch mein Urtheil über den Wein einzuholen. Winkel heftete seine Blicke auf mich, beschaute mich von oben bis unten und mit dem Ausdruck des größten Erstaunens rief er aus: "Sie sind also doch nicht skalpirt worden?" "Nicht ganz, aber beinahe," antwortete ich, indem ich den breitrandigen Strohhut von meinem Kopfe zog, und ihm den mit stattlichem Haarwuchs bedeckten Schädel zeigte. "Sie tragen vielleicht eine Perrücke?" fragte Winkel wieder, wobei er seine Hand auf mein Haupt legte. "Wahrhaftig!" fuhr er fort, "es ist Ihr eigenes Haar; hieß es doch allgemein, daß die Indianer Sie der Mühe des Haarschneidens auf ewige Zeiten enthoben hätten!" Nun ging es an's Fragen und Erzählen, wir blieben dabei aber auf dem Fasse sitzen, ein mächtiges Stück Segeltuch gewährte uns Schutz gegen die sengenden Strahlen der Sonne, eine erfrischende Brise wehte uns von dem Golf entgegen, das offene Spundloch befand sich zwischen uns Beiden, Heber und Becher dagegen bald auf der einen, bald auf der andern Seite, und so rührten wir uns nicht eher von der Stelle, als bis die Seebrise einschlummerte und die Hitze uns nach verschiedenen Richtungen hin dem heimischen Gasthofe zutrieb.
           Winkel war also Buchhalter in einem großen Weingeschäft geworden, und bekleidete nicht nur eine angenehme, sondern auch einträgliche Stelle. Während meines sechswöchentlichen Aufenthaltes in New-Orleans waren wir viel zusammen, und wenn ich den Tag über in den benachbarten Sümpfen den Schlangen und Alligatoren für naturhistorische Sammlungen nachgestellt hatte, bei welcher Beschäftigung ich vor Hitze fast umkam, so fand ich des Abends Erholung, wenn nächtliche Kühle sich auf die dann auflebende Stadt senkte, und ich mit Winkel auf dessen Balkon saß, und gemeinschaftlich mit ihm Havannas und Frankreichs edelste Producte, der Gegenwart sorglos opferte. Der Balkon, auf welchem wir uns befanden, reichte über mehrere Häuser hinaus, war aber vor jeder Wohnung durch hohe Wände von der angrenzenden getrennt, so daß man Alles, was in der Nachbarschaft vorging, durch die geöffneten Thüren und Fenster deutlich vernehmen konnte, ohne dabei die Bewohner selbst zu erblicken.
           In der zweiten Wohnung von unserm Balkon, aber in gleicher Höhe mit demselben, lebte eine Sängerin; diese nun machte sich ebenfalls die schönen Abende zu Nutze, und sang Stunden lang mit ihrer klaren, lieblichen Stimme so schöne Lieder und Melodien, daß wir uns keine ansprechendere Unterhaltung hätten wünschen können. Winkel, der schon längere Zeit dort wohnte, hatte die Sängerin, welche uns allabendlich so reichen Genuß verschaffte, trotz Bemühungen noch nie zu Gesicht bekommen, doch stimmten wir Beide in unsern jugendlichen Ansichten überein, daß diese von der Natur so bevorzugte Dame nur ein junges, vielleicht ein sehr schönes Mädchen sein müsse. Winkel's Neugierde, die schöne Nachbarin kennen zu lernen, stieg in dem Grade, als ich ihm davon abrieth, "denn", sagte ich, "Wenn Sie sich in Ihren Erwartungen getäuscht finden, so schwinden auch die Illusionen, der Heiligenschein, mit welchem Sie in Gedanken die Sängerin umgeben, fällt wie ein gebrauchter Mantel zur Erde, und mit weniger Aufmerksamkeit werden Sie später den Liedern lauschen." Er wollte mir durchaus nicht Recht geben, und wunderte sich nur über meine Art zu philosophiren.
           Heute muß ich die Sängerin sehen, und sollte ich vom Balkon auf die Straße hinabstürzen," so rief Winkel eines Abends um die Mitternachtsstunde, als die letzten Worte der Gnadenarie eben verklungen waren, und er eine neue Flasche auf's Eis gestellt hatte. "Bleiben Sie hier," rief ich ihm lachend zu, "es könnte Ihnen leicht eine Revolverkugel das Vergnügen versalzen!" "Und wenn es Kanonenkugeln wären, so würde ich mich nicht zurückhalten lassen," gab er zur Antwort, "und gleich darauf befand er sich außerhalb des Balkongitters, wo er sich an den eisernen Sprossen festklammerte. Die Straße war schon ziemlich leer, und die einzelnen Leute, welche noch vorübergingen, konnten ihn kaum bemerken, weil er sich im zweiten Stockwerk befand; wenn er dann aber an erleuchteten Thüren und Fenstern vorüberglitt, und der Schimmer des Lichtes ihn sichtbar machen mußte, hielt man sein Benehmen wohl nur für einen harmlosen Scherz, und vor Bewohnern des gegenüberliegenden Hauses war er sicher, indem sich dort statt erleuchteter Fenster ein im Bau begriffenes, riesenhaftes Hotel befand. Ich bediene mich hier Winkel's eigener Worte. "Vorsichtig lugte ich um die erste Scheidewand, der Balkon war leer und Ruhe herrschte in der Wohnung; nicht ohne Gefahr gelangte ich bald darauf an die zweite Scheidewand, auch dort war Alles sicher, und nach Zurücklegung von einigen Fuß erhielt ich endlich eine freie Aussicht in das Gemach und auf die Sängerin, die so lange meine unbesiegbare Neugierde rege gehalten hatte. Die dreifensterige Stube, aus welcher mir die glockenreinen Triller und Modulationen auf's Neue entgegenschallten, war keineswegs reich, aber doch elegant eingerichtet; ein weicher Teppich bedeckte den Boden, und auf dem selben lagen zwei schlafende Kinder. Auf einem Ecksopha saß nachlässig angelehnt ein alter Kreole mit grimmigem Ausdruck in dem bärtigen Gesicht; er las eine Zeitung und schien sich ebensowenig um die Musik, als um Anderes zu kümmern. In der Mitte des Gemachs, vor einem aufgeschlagenen Flügel, beleuchtet von zwei Lampen, saß meine Sängerin; ich sah nur ihr Profil, doch kaum hatte ich den ersten Blick auf dieselbe geworfen, als ich tief aufseufzte, und mich wieder an Ihre Seite zurückwünschte. Da sah ich nämlich vor mir im leichten, weißen Gewande, welches kokett von den alabasternen Schultern herabhing, eine weibliche Gestalt, die ungefähr zwei Centner wiegen mochte. Ihr Hals war lang, aber schien mehr eine Fortsetzung der fetten Schultern, als ein besonderes Glied zu sein, und ein dreidoppeltes Kinn zierte die untere Hälfte de Gesichtes, in welchem ein unglaublich großer Mund die hervorragendste Rolle spielte. Die Augen waren schwarz, klein und geschlitzt, die dunkeln Haare dagegen von ungewöhnlicher Stärke und Schönheit; auch der Teint, von welchem, der Wärme wegen, mehr wie unumgänglich nothwendig, mir entgegenschimmerte, ließ Nichts zu wünschen übrig, und stand im grellsten Contrast zu den Flechten und Locken, die halb aufgelöst auf die breiten Schultern herabfielen. So saß sie da, die geheimnißvolle Sängerin, anmuthig wiegte sie den schön geformten Kopf, mit großer Gewandtheit eilten die fleischigen Hände über die Tasten des Instrumentes, und leiser, gleichsam einschläfernd verhallten allmählich die lieblichen Töne, die zwischen zwei Reihen perlenähnlicher Zähne hindurchgehaucht wurden. Verwunderungsvoll schaute ich hinüber, und bezweifelte fast, daß die corpulente Dame wirklich die Künstlerin sei, aber ein Irrthum war nicht möglich, und sehr enttäuscht begann ich mich an der Außenseite des Balkons langsam zurück zu bewegen. Ich hatte die erste Scheidewand noch nicht erreicht, als plötzlich die Musik verstummte, und gleich darauf die hagere Gestalt des finstern Kreolen in der Thür erschien. Ich glaubte mich schon entdeckt, und drückte mich krampfhaft an das Gitter, doch der Mann hob träge seine Arme, reckte und dehnte seine Glieder, und rief dann aus: "welch herlicher Abend!" kaum war das letzte Wort seinen Lippen entflohen, als die umfangreiche Dame, ohne Zweifel seine Gattin, sich an seine Seite drängte, zärtlich ihren Arm durch den seinigen schob, und ihm in französischer Sprache antwortete: "O mein Guido! Du mein einziges Glück, welche Wonne, an Deiner Seite den herrlichen Abend zu bewundern, welch ein Zauber!" - "Laß doch die Narrheiten," unterbrach sie harsch der gestrenge Eheherr "und Kümmere Dich lieber um Deine Kinder!" Diesen Augenblick hatte Winkel benutzt, um leise um die Ecke zu gleiten, und bald darauf saß er wieder an meiner Seite und stattete mir genauen Bericht über das Gesehene und Gehörte ab. Häufig noch vernahmen wir an späteren Abenden den Gesang, wir fanden denselben gewiß nicht weniger schön, doch regte sich bei Winkel nie wieder die Lust, einen nächtlichen Gang an der Außenseite des Balkongitters zu wagen.



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