BALDUIN MÖLLHAUSEN:
Texte

Die Mandanenwaise
Artikel von Andreas Graf in:
Reclams Romanlexikon, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Naturalismus, Stuttgart: Reclam 1999
(Auch in: Reclams Romanlexikon [einbändige Ausgabe], Stuttgart: Reclam 2000)


Der Herausgeber des Vorliegenden, Nahanga, ist im Jahr 1852 in der Prärie am Sandy-Creek eingeschneit und liest dabei ein Manuskript, das er im Beutel des Medizinmannes Wakitamone gefunden hat. Es interessiert ihn besonders, weil darin von einem deutschen Landsmann, Gustav Wandel, die Rede ist: Der Student Wandel wird, fast zwanzig Jahre zuvor, in Bonn von dem verkappten Jesuiten Bernhard in politische Intrigen verwickelt, die in den scheiternden Sturm auf die Frankfurter Hauptwache am 20. März 1833 münden. Die Machinationen des Geistlichen beziehen sich auch auf Johanna, die von Gustav geliebte Nichte seines Vormundes. Gustav wird nach dem Scheitern des Aufstandes zu "lebenslänglicher Einschließung" verurteilt, wird aber befreit und kann, nicht zuletzt mit Hilfe seines Vormundes, dem im Siebengebirge lebenden Oberförster Werker, nach Amerika fliehen. Er geht als Jäger in den Westen und trifft dort in einem Mandanendorf ein fünfzehnjähriges Halbblut-Mädchen, Schanhatta, deren Stamm restlos den Blattern zum Opfer gefallen ist. Ihr Aussehen erinnert Gustav an Johanna. Als er in gefährliche Abenteuer auf einer Flußinsel gerät, pflegt sie ihn gesund. Dabei beginnt er, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Hier endet das Manuskript des deutschen Studenten, doch die Geschichte findet eine überraschende Fortsetzung, denn der Herausgeber, ein Deutscher, in Bonn geboren, deutet an, daß ihm einige der erwähnten Personen bekannt seien. Er trifft im Städtchen Belleville in der Nähe von St. Louis eine deutschen Farmer, der ihn zur Weinprobe der Jahrgänge "von 46 bis 51" einlädt. Der Weinbauer und seine Frau Jeanette entpuppen sich als Gustav Wandel und seine Frau Schanhatta. Beide erzählen ihrem Landsmann nun den Rest ihrer Erlebnisse persönlich. Beide wurden von der Insel gerettet, fielen dann jedoch in die Hände des Blackfeet-Häuptlings Blackbird. Als man das Manuskript bei ihnen findet und ihm Zauberkraft zuspricht, kommt nachts heimlich der Medizinmann des Stammes zu ihnen ins Zelt. Er spricht sie auf Deutsch an und entpuppt sich als der von den Jesuiten um sein Glück und seine Frau betrogene Vater Johannas, der auch der Vater Schanhatta/Jeanettes ist. Er war von den Indianern entführt worden und hatte sein Gedächtnis verloren. Durch die Lektüre des Manuskriptes erinnert er sich jedoch seiner Vergangenheit und flieht gemeinsam mit den Gefangenen. Nahanga erweist sich als der neunjährige Junge, der Gustav seinerzeit in Bonn bei der Flucht geholfen hatte. Er beschließt, aus den Erlebnissen beider ein Buch zu machen, das "Die Mandanen-Waise" heißen soll.- "Amerika liegt nicht außerhalb der Welt" sagt Gustav vor seiner Flucht zu seinem Vormund. Es bietet aber den utopischen Raum der Freiheit, in dem Machinationen und Geheimnisse sich durch bestandene Abenteuer auflösen. Der autobiographische Hintergrund des Romans ist an jeder Stelle deutlich, doch Realität und Erfindung werden von einem Erzähler-Ich gemischt, das deutlich die Autorität und Glaubwürdigkeit des Autors Möllhausen durchscheinen läßt. Es findet ein bewußt vom Autor gesteuerter, allmählicher Übergang von den erlebten Fakten des Reisenden und Abenteurers Möllhausen hin zu imaginierten Fiktionen statt. Zwei Ich-Erzähler treten auf, Nahanga und Gustav Wandel, deren Geschichten durch komplizierte Verschachtelung zu einem autobiographisch-romanesken Vexierspiel miteinander verwoben sind, das auch die klare räumlich-zeitliche Zweiteilung des Romans (Deutschland-Amerika-Schema) zusammenhält. Für den realen zeitgeschichtlichen Hintergrund wurden zwei Ereignisse vermischt (Frankfurter Wachensturm, Märzrevolution); vermutlich kannte Möllhausen (mindestens) zwei Beteiligte dieser fünfzehn Jahre auseinander liegenden Ereignisse persönlich (Gustav Körner, Gottfried Kinkel) und ließ ihre Lebensgeschichten in der Figur des Gustav Wandel zusammenfließen. Körner war später Vizegouverneur von Illinois und gehörte zu den berühmten deutschen "latin farmers", Kinkels aufsehenerregende Flucht aus dem Spandauer Gefängnis war allen Zeitgenossen ein Begriff. Entscheidend für die literaturgeschichtliche Stellung des Romans (Vorabdruck: "Deutsche Roman-Zeitung" 1865) ist die programmatische Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion mittels einer abenteuerlichen Ich-Erzählung. Der Ire Thomas Mayne-Reid hatte dies im angelsächsischen Raum bereits zuvor getan, Karl May griff später, mit spektakulärerem Erfolg, auf dieses Rezept zurück.



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